«Mit Talent allein gewinnt man nicht – es braucht Leidenschaft und Kampfgeist»

  30.05.2024 Sport-Reportagen

Zu Saisonbeginn hielten die Frauen von Aufsteiger FC Rot-Schwarz Thun schlechte Karten in den Händen. Kein Trumpf-Buur, kein Nell und für einen «Obeabe» fehlten die Asse. Nach dem Aufstieg in die höchste Spielklasse, die AXA Women’s Super League, wetteten nur die allergrössten Optimisten auf einen Ligaerhalt. Und dann warf nach nur zwei Spielen auch der für Aufstiegstrainer Adrjian Bat geholte Manuel Bregy Knall auf Fall den Bettel hin.

0 Punkte und 2:6 Tore standen zu diesem Zeitpunkt auf dem Konto der Thunerinnen, der Car für die Reise nach St. Gallen stand abfahrbereit am Besammlungsort – guter Rat war teuer. Exakt in diesem Moment war den Thunerinnen in dieser Saison erstmals das Glück hold. Roland Getzmann, im Berner Regionalfussball als Spieler und Trainer eine Legende, sprang ein, übernahm die Verantwortung, «obwohl ich geglaubt hatte, dass meine Trainer-Karriere zu Ende sei und ich fussballfreien, lockeren Wochenenden entgegenblicken könne», so der Coach, der mit seinem Team 70 Jahre nach dem «Wunder von Bern» das «Wunder von Thun» geschafft hat. Die erste Partie in St. Gallen ging zwar noch verloren, doch bereits im nächsten Heimspiel forderte Getzmann YB mit Erfolg. Gegen das Spitzenteam mit der erfolgshungrigen Trainerin Imke Wübbenhorst musste Thun den 3:3-Ausgleich erst in der vierten Minute der Nachspielzeit entgegennehmen. Getzmanns Ärger war gross, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass die Thuner Frauen nicht nur den ersten Punkt, sondern auch viel Selbstvertrauen gewonnen hatten.

Der erfahrene Trainer fand sogleich den Draht zu den Spielerinnen, ging mit ihnen ehrlich um, redete Klartext, führte Einzelgespräche und sah über die widrigen Umstände hinweg. «Unsere Bedingungen sind schlechter als bei einem 3.-Liga-Klub, oft steht uns nur ein halber Platz fürs Training zur Verfügung und während den Spielen fehlt die medizinische Betreuung, doch wir machten aus Scheisse Gold», nimmt Getzmann auch hier kein Blatt vor den Mund. «Jetzt fühle ich mich fantastisch», sagt der Mann, der im Fussball nichts mehr hasst als den Konjunktiv, weil er weiss, dass kein Team mit wäre, hätte, könnte und sollte einen Blumentopf gewinnt.

Keine Entschuldigungen
«Die Entschuldigungen, die wir bei einem allfälligen Abstieg hätten bereithalten können, fänden auf einem A4-Blatt nicht Platz», sagt Getzmann. Doch auch hier gibt es keinen Konjunktiv. Selbst gegen die besten Teams der AXA Women’s Super League erfuhren seine Spielerinnen in der Matchvorbereitung, «dass wir die Besten sind, denn mit Talent allein gewinnt man nicht, es braucht auch Leidenschaft und Kampfgeist», vermittelte der Coach seinem Team. Und siehe da: Thun punktete und in der Abstiegsrunde zahlte es sich aus, dass der clevere Taktiker seine Frauen in der Vorbereitung gegen starke Teams aus der zweitobersten Spielklasse antreten liess und sie somit wussten, was in der entscheidenden Phase der Saison auf sie zukommen wird. Getzmann hatte erkannt, dass seine Spielerinnen oft nach rund 65 Minuten die Kräfte verliessen, er setzte den Hebel dort an, wo es notwendig war. Viermal in der Woche wurde trainiert, in der Rückrunde dreimal und zusätzlich einmal im Kraftraum, die Frauen steigerten ihre Fitness und hielten fortan während 90 Minuten das angeschlagene Tempo aufrecht. «Das ganze Training wurde in Spielformen absolviert. Wir unterbrachen die Spielzüge oft, korrigierten und die Spielerinnen lernten, dass beispielsweise bei einem Ballgewinn der Konter zwar sofort ausgelöst wird, der entscheidende Pass in die Tiefe jedoch nicht um jeden Preis schnell gespielt werden muss. «Die Spielerinnen sind sehr lernwillig, begreifen schnell und versuchen, das Gelernte auf dem Feld umzusetzen», ist Roland Getzmann nicht nur vom schnellen Auffassungsvermögen seiner Frauen beeindruckt, sondern auch von deren Einstellung und Begeisterung, die sie trotz widrigen Umständen für ihren Sport aufbringen. «Sie arbeiten tagsüber, kommen zum Training, frönen ihrem Hobby, ohne daraus irgendeinen finanziellen Nutzen zu ziehen – ihre Einstellung kann man nur bewundern».

Wie geht es weiter?
Nachdem der Ligaerhalt gesichert ist, stellen sich den Verantwortlichen des FC Rot-Schwarz verschiedene Fragen. Was wird aus einer Zusammenarbeit mit dem FC Thun Berner Oberland, ist sogar ein Zusammenschluss eine Möglichkeit? Kann der Staff vergrössert werden, weil der ehrenamtliche Aufwand riesengross ist. «Mein Assistent Thomas Rothenbühler ist wohl das wichtigste Puzzle-Teil. Er führt über Alles und Jedes Buch, ist bei sämtlichen Gesprächen dabei, macht das Einlaufen, hilft bei der Spielvorbereitung – er ist der Mann für alle Fälle», so Getzmann. Ungeklärt ist auch, ob der Erfolgstrainer, dem grosser Anteil am Ligaerhalt zukommt, weiterhin in Thun bleibt. «Alles ist offen, ich möchte einfach, dass die Lasten auf mehrere Schultern verteilt werden und ich etwas kürzertreten kann», sagt der Coach, der nach seiner Aktivkarriere vor dem Engagement bei Rot-Schwarz Thun beim SC Worb, FC Lerchenfeld, FC Bern 1894 und FC Köniz tätig war. Getzmann spart nicht nur mit Lob für «seine» Frauen, sondern auch für Thomas Rothenbühler, mit dem er eine optimale Zusammenarbeit pflegt, und die YB Frauen. «Wir pflegen eine enge Zusammenarbeit, haben viele Spielerinnen übernehmen können, die nach Verletzungen auf dem Weg zurück sind oder bei YB nicht zur Stammformation gehörten. Rolf Kirchhofer, der Chef der YB Frauen, ist ein echter Profi und hat immer ein offenes Ohr für unsere Anliegen.» Das 3:3-Unentschieden, mit dem Rot-Schwarz Gelb-Schwarz einen Punkt abknöpfte, hat an der kollegialen Zusammenarbeit nichts geändert.

Pierre Benoit

 


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