Darf ich mich vorstellen? Oberhofen. MS Oberhofen

  11.07.2024 Reportagen

Das abenteuerliche Leben einer weit gereisten Heimkehrerin, Verbannung und Rückkehr. Ein wichtiges Stück Thunersee-Geschichte.

Es liegt in der Natur eines Schiffes, in Bewegung zu sein und mit seiner Besatzung bekannte und unbekannte Routen zu bereisen. Dennoch darf ich auf eine äusserst ungewöhnliche Expedition durch denkwürdige Zeiten und bedeutungsvolle Ereignisse zurückblicken. Eine spannende Reise, die mich durch eine Vielzahl von Gewässern führte, mit besonders leidenschaftlichen Menschen zusammenbrachte und nicht unvorhersehbarer sein konnte.

Wo meine Kollegen, Fähr-, Kreuz- und Frachtschiffe, nach einer durchschnittlichen Lebensdauer zwischen 20 und 50 Jahren ausgemustert und verschrottet werden, kann ich von grossem Glück sagen, dass ich in diesem Jahr bereits 85 Lenze zähle. Mehr als einmal stand meine Existenz auf Messers Schneide. Meine Geschichte beginnt aufsehenerregend und wie es scheint, hat sie bis heute nicht an Spektakel eingebüsst.

Zusammen mit meinen drei Schwestern MS TAUCHERLI, MÖVE und SCHWAN, laufe ich 1939 als ENTE in der Escher Wyss Werft in Zürich vom Stapel. Das weltweit Revolutionäre an uns Schwestern ist der im Vergleich zum kohlegefeuerten Dampfschiff saubere Dieselmotor. Eigens für die Schweizerische Landesausstellung in Zürich gebaut, verkehren wir, die «LandiBoote», von Mai bis Oktober 1939 zwischen den beiden Zürichsee-Ufern, um die Gäste und Besucher vom einen zum anderen Ausstellungsgelände zu schippern. In diesem halben Jahr befördern wir zusammen mit der 1934 gebauten MS ETZEL täglich rund 30’000 Personen. Nach Kriegsausbruch im September wird unser Betrieb für drei Tage unterbrochen. In Thun bewegt in diesen Tagen die Mobilmachung. Die eingezogenen Soldaten besammeln sich am Bahnhof und die Dufour-Kaserne wurde eben erst fertiggestellt. Die Wiedereröffnung der Landesausstellung erfolgt durch General Henri Guisan und während der Filmklassiker «Vom Winde verweht» mit Clark Gable schwarz-weiss über die Kinoleinwände flimmert, nehmen wir für die verbleibenden Ausstellungstage den Betrieb wieder auf.

Nach der Landesausstellung verliere ich meine Schwestern aus den Augen und werde 1940 an die Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn BLS auf den Thunersee verkauft. Baulich wird das lediglich überdachte Deck mit einer beheizbaren Kajüte im Mittschiffsbereich für den Winterbetrieb ausgerüstet. Ein paar Jahre später weicht mein – mit abgeschrägten Frontscheiben – futuristisch anmutendes Führerhaus einem, dem Zeitgeist eher entsprechenden Bau. Neu getauft auf den Namen MS OBERHOFEN, finde ich in den folgenden 60 Jahren und fast 750’000 km auf dem Thunersee meine Heimat. Von den Einheimischen werde ich liebevoll OBERHOFNERLI genannt und als fester Bestandteil der Thunerseeregion wahrgenommen.

Entsprechend gross ist die Bestürzung in der Bevölkerung, als ich 1999 zusammen mit anderen kleinen Motorschiffen verkauft und per Vertrag von Berner Oberländer Seen verbannt werde. Nie mehr dürfe ich zurückkehren, hiess es in diesem Dokument. Der damalige Aufsichtsrat-Vorsitzende der BLS erwirkt mit der Reduktion der Flotte beim Kanton als Mitfinanzierer eine Legitimation für den Neubau eines grösseren Schiffes, namens MS SCHILTHORN. Mein Schicksal scheint definitiv besiegelt.

Die Rettung naht aus dem fernen Holland. Schweren Herzens muss ich von meinem Namen und meiner Heimat Abschied nehmen. Umgetauft zu VRIENDSCHAP (Freundschaft) bringt mich mein neuer Besitzer in fremde Gewässer bei Amsterdam. Er weiss mit einer mittlerweile 60-jährigen, altgedienten Schiffsdame umzugehen. In der Überzeugung, dass meine Blütezeit nun hinter mir liegt, werde ich aufs Neue überrascht und komme unerwartet in den Genuss royaler Ehren. Stolz reihe ich mich 2013 in die Schiffsparade zur Krönung des niederländischen Königs, Willem-Alexander, ein und werde einmal mehr Zeuge eines bedeutsamen Ereignisses.

Aber die Freude währt nicht lange, denn noch im gleichen Jahr, muss ich um mein Fortbestehen bangen. Erneut stehe ich mit mittlerweile schon 74 Jahren zum Verkauf. Unerwartet aber umso erfreulicher erfahre ich, dass man sich in meiner Heimat noch an mich erinnert, ja sogar eine Interessensgemeinschaft gegründet hat, mit dem Ziel, mich auf meine alten Tage wieder in die Heimat zu bringen. Offenbar werden meine damals in der BLS geleisteten Dienste anerkannt. Langjährige und selbstlose Begleiter engagieren sich mit viel Herzblut für meine Rückführung. Die Einzigartigkeit meiner Bauweise, wie beispielsweise der hydraulisch stufenlos verstellbare Neigungswinkel der Propellerflügel, der schon damals und auch heute noch eine absolute Besonderheit darstellt, verhilft mir zu besonderer Beliebtheit. Es folgt das schier Undenkbare: Im November 2014 verlasse ich Holland, als eine Art Seitenwagen, vertäut an ein Frachtschiff rheinaufwärts in Richtung Basel. In einem aufwändigen Transport zu Land gelange ich von Basel ins Thuner Hafenbecken. Unter feierlichen Klängen der Blaskapelle Selve und grossem Jubel der Thuner Bevölkerung werde ich wahrlich rührend empfangen. Ja sogar ein Feuerwerk erleuchtet den Nachthimmel bei meiner Wasserung. Für die Saison 2014 empfange ich in der BLS-Werft diverse Restaurationen und eine Prüfung auf Herz und Nieren durch das Bundesamt für Verkehr erlaubt mir einen erneuten Einstieg ins Chartergeschäft. Zugelassen für 80 Personen, bietet mein charmantes Inneres den idealen Raum für den besonderen Anlass. Fortan darf ich jährlich bis zu 80 private Feiern und ganze Hochzeitsgesellschaften an Bord begrüssen.

Obwohl ich im 2021 als einziges Motorschiff der Schweiz unter kantonale Denkmalpflege gestellt werde, also offiziell als geschütztes Kulturgut gelte, trügt diese Idylle. Nach einem erneuten BLS-Entscheid, die Flotte einer massiven Reduktion zu unterziehen, verliere ich im selben Jahr während der Covid-Krise sowohl meine Arbeit, als auch meine Hoffnung, je wieder Ausfahrten unternehmen zu können. Ich wüsste nicht, wer oder was mich noch retten könnte. Bei der Suche nach einer Trägerschaft kommt erschwerend hinzu, dass meine Fahrbewilligung an einen Liegeplatz gekoppelt ist. Die Variante an der Hofstetten-Ländte beim Restaurant Dampfschiff ist scheinbar lediglich eine befristete. Aber nun kommts: Treue Begleiter und junge begeisterungsfähige Menschen mit Visionen spannen zusammen und schlagen in meinem Bordbuch ein neues Kapitel auf. Eine breit abgestützte Trägerschaft, in enger Zusammenarbeit mit der BLS und den Behörden, legt sich in die Riemen und erarbeitet mit kreativen Ansätzen und bemerkenswerter Kooperation tragfähige Lösungen. Mein Betrieb ist neu lanciert. Ich freue mich, noch einmal die Chance zu bekommen, mit interessanten Gästen an Bord über den einzigartigen Thunersee zu gleiten. Bald kann ich Ihnen mehr über meine Beschützer und Förderer berichten.
Ahoi, ihr Oberhofnerli
Astrid Schmid


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote