Darf ich mich vorstellen? Oberhofen. MS Oberhofen

  05.09.2024 Reportagen

Das abenteuerliche Leben einer weit gereisten Heimkehrerin, Verbannung und Rückkehr. Ein wichtiges Stück Thunersee-Geschichte.

Ein wahrlich grosser Tag steht bevor! Soviel lassen mich meine Besitzer und Förderer zur Einweihungsfeier wissen.
Aber unter uns – ganz im Vertrauen, das hat mich im ersten Augenblick gar nicht so sehr interessiert. Viel wichtiger sind mir die Probe-Fahrten über den Thunersee. Jeden Hafen rund um mein zauberhaftes Heimatgewässer fahren wir an und jede meiner Funktionen wird ausprobiert. Mein Salon schaut aus, als ob sich gleich eine Hochzeitsgesellschaft zu einem rauschenden Fest einfindet. Auf diesen Ausfahrten achtet mein Chef-Kapitän äusserst aufmerksam auf jede meiner Regungen und auf aussergewöhnliche Geräusche. Sein zufriedenes Lächeln zeigt mir, dass es keinen Anlass zur Sorge gibt und so darf ich diesem grossen Tag gelassen entgegenschauen.
Ich habe gehofft, dass mich an der Eröffnungsfeier der eine oder die andere alte Bekannte besuchen wird. Als aber mein Kapitän den Kurs Aare abwärts einschlägt und an der Hofstetten-Ländte anlegt, ahne ich, dass sich zu den Erwarteten bestimmt einige Passanten dazu gesellen werden. Ob es mir als kecke alte Dame wohl gelingt, sie einzuladen, einen Blick in mein hübsches Inneres zu werfen?

Was sich dann am besagten grossen Tag an der Hofstetten-Ländte abspielt, übertrifft meine Erwartung bei weitem. Neben all den Menschen, die sich in den vergangenen Monaten so reizend um mich gekümmert haben, strömt eine Vielzahl von Besuchern und Interessierten über den kippelnden Steg an Bord. Es wird prüfend inspiziert, bewundert und anerkennend bemerkt, dass sich das Ergebnis der aufwändigen Arbeiten durchaus sehen lassen kann. Es fallen Äusserungen wie «gäu, isch schön worde», «suberi Büez» und «immerno üses Oberhofnerli». Kleine und grosse Passagiere dürfen sogar in das erhöht angebrachte Führerhaus klettern oder erhaschen einen Blick durch das, gut aus alten Zeiten erkennbare, Fenster des Billett-Schalters in die neu angelegte Gastroecke. Sie studieren die technischen Daten auf dem Aushang, bewundern den frisch gemalten mächtigen Anker oder wandeln verträumt durch den Salon. Im Heck installiert sich wie in alten Zeiten eine Kapelle und während sich die Besucher an Land am Getränkestand eine kühle Erfrischung besorgen und sich auf den Bänken oder an den Stehtischen angeregt unterhalten, erklingen Songs aus meiner Jugendzeit: «I did it my way» von Frank Sinatra oder Dean Martin’s «Everybody love somebody». Unterdessen finden die farbigen «Lösli» feierlich gestimmte Abnehmer, die auf einen Gewinn, nämlich eine Fahrkarte für die begehrte Rundfahrt, hoffen.
Dankbar für diesen geglückten Auftakt meines Einsatzes für die Berner Oberland Charterschiff AG, schaue ich die Aare aufwärts und träume von ausgedehnten Fahrten über den Thunersee, als sich mir plötzlich ein ungewöhnliches Bild bietet. Überrascht erkenne ich einen Schiffs-Konvoi, bestehend aus Seepolizei, Seerettung und Yachtclub-Boot, der sich geradewegs auf mich zubewegt. Ausser vielleicht zu 1. August-Feierlichkeiten ist das ein eher seltenes Schauspiel. In diesem Moment stimmt die beachtlich grosse Harmonie mit ihren blitzblank polierten Instrumenten das Stück Royal Jubilee an. Mein Horn erklingt und sämtliche Funktionäre, darunter verschiedene Fürsprecher, Beschützer, Förderer, Vertreter aus Politik und der Stadt Thun, ja sogar mein früherer Besitzer aus Holland besammeln sich an meiner Backbordseite. Dankbar für diese Nähe der mir vertrauten Menschen werde ich nun doch etwas aufgeregt, denn landseitig baut sich ein imposanter Halbkreis von unzähligen Menschen auf. Jetzt jubeln sie alle dem Gast zu, der per Konvoi auf dem Wasserweg angereist ist. Er ist wohl nicht nur in der Gegend sondern auch landesweit bekannt. Die Leute flüstern, es handle sich um den Verkehrsminister, der Bundesrat aus der Region, jedenfalls heissen ihn alle mit frenetischem Beifall willkommen.
In der Folge erzählen Vertraute an meiner Seite Episoden und Begebenheiten aus meinem langen Leben. Vom Kriegsausbruch während der Landesausstellung in Zürich, in welcher ich als Landi-Boot zwischen den beiden Seeufern verkehrte, bis hin zu meinem Einsatz in Amsterdam und meiner spektakulären Rückkehr, die ab Basel aufwändigst auf der Strasse während drei Nächten umgesetzt wurde. Jemand sagte, ich sei eine Art Zeitkapsel, soviele Epochen wie ich schon durchlebt habe. Zum Schluss spricht der Verkehrsminister, der erwähnt, dass falls er Bundespräsident werde, er sich gut vorstellen könne, für seine Kameraden und Kameradinnen das «Reisli» auf der MS Oberhofen zu organisieren.

Die Festivitäten dauern bis weit in den Abend. Ein gelungener und bedeutsamer Anlass neigt sich dem Ende zu. Eine weitere entscheidende Etappe in meinem Leben endet in dieser Nacht. Etwas wehmütig schaue ich zurück auf die letzten bewegten Monate, gleichzeitig ergreift mich eine unbeschreibliche Sehnsucht: Die Sehnsucht und die Vorfreude auf den grossen, weiten Thunersee!
Ahoi und auf Wiedersehen, Ihr Oberhofnerli
Astrid Schmid

Erste Folge erschienen am 11. Juli 2024. Zweite Folge erschienen am 18. Juli 2024. Dritte Folge erschienen am 25. Juli 2024. Folge 3½ erschienen am 15. August 2024.

 


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