Vom Thunersee zur Nordsee – auf zwei Rädern

  13.06.2024 Reportagen

Eine Reise neben dem Strom.

Mir bleibt keine Wahl. Wenn ich Hoek van Holland an der Nordsee erreichen will, muss ich eine unpopuläre Entscheidung treffen. Ab meinem Standort Koblenz bis zu meinem erklärten Ziel bleiben noch 565 Kilometer und 5 Tage. Dazwischen liegen zeitraubende Etappen durch mehrere deutsche Grossstädte und nach durchgehend 10 Tagen radeln rechne ich zudem mit einem Leistungseinbruch. Ich schiebe Bianca, mein geliehenes Rad, am späten Nachmittag durch die Bahnhofshalle zum Ticketschalter und löse für den Folgetag eine Fahrkarte nach Duisburg, die letzte grosse Stadt vor der holländischen Grenze. Damit verkürzt sich die verbleibende Distanz in nur zwei Stunden Zugfahrt um 180 km. Als ich mich im Zentrum von Duisburg wieder aufs Rad schwinge, bleibt noch reichlich Zeit für eine lockere Erholungsetappe bis zum antiken Städtchen Xanten. Es fühlt sich wie eine Zeitreise an, über den Pflastersteinbelag durch die engen und belebten Gässchen zu rollen. Schon im Nibelungenlied wird Xanten erwähnt und die beeindruckende Geschichte dieses Ortes ist sicht- und spürbar. Nur der Kirmespark auf dem Platz vor dem Dom St. Viktor steht mit der Teilrekonstruktion der römischen Arena in krassem Widerspruch.

Endlich, der Grenzübertritt nach Holland und schon wenige Kilometer später, führt mich der Radstreifen direkt auf eine kleine Fähre. Ein erfreulicher Vorgang, der sich übrigens bis ans Ziel täglich mehrmals wiederholt und sowohl für herrliche Abwechslung als auch für interessante Begegnungen mit Reisenden und Fährencrews sorgt. Lediglich eine Fährstation wird ihren Betrieb erst ein paar Tage nach meiner Ankunft am Fährsteg aufnehmen. Die kurze Überfahrtstrecke hätte ich locker schwimmend überwinden können, aber für Bianca und mich bedeutete die Umfahrung über die nächste Brücke acht Zusatzkilometer. Leicht unterzuckert und vom Gegenwind geprüft, entlockt mir die Erkenntnis nicht gerade ein Jubelruf. Eine kleine Pause und ein Ovosport später akzeptiere ich das Unveränderliche. Nicht zuletzt amüsiert mich die holländische Veloweg-Führung, oder eben der «Fietpad», wie er niederländisch so schön heisst. Aufwändig gebaut und mit einer erheblichen Anzahl an Mehrkilometern und teilweise sogar eigens für die Radfahrer gebauten Kreiseln, bietet er eine abwechslungsreiche Strecke, auf welcher man gegenüber anderen Verkehrsteilnehmenden offensichtlich immer Vortritt hat. Ein Umstand, der das beglückend erlebte Gefühl von völliger Vertiefung und Aufgehens in meiner Reiseform verstärkt. Die tägliche Gepäckbereitstellung geht mittlerweile wie von selbst. Der Regen spielt bloss noch eine Nebenrolle und abgesehen von den zunehmend leeren Beinen haben sich alle körperlichen Symptome des täglichen Velofahrens gänzlich verflüchtigt. Wenn ich spät nachmittags vor der Unterkunft meine vier Taschen vom Rad nehme, ist die Befriedigung über die geschaffte Tagesetappe erhebend. Auch wenn sie jeweils spätestens nach dem Frühstück dem neuen Anspruch auf eine Tagesleistung weicht. Denn selbst wenn sich zuletzt alle Teile zu einem grossen Ganzen zusammenfügen, fange ich doch jeden Tag irgendwie bei Null an. Das alleine Unterwegssein wirft einen zurück auf sich selbst. Da ist keiner, der die schlechte Laune auffängt oder neutralisiert. Jeden Tag aufs Neue habe ich die Wahl, welche Stimmung mich begleitet, ob der Regen es schafft, mir die Fahrt zu vermiesen. Spätestens bei meinen leisen Diskussionen mit meinem Navi über die Routenwahl habe ich akzeptiert, dass ich ein soziales Wesen bin und gerne im Austausch mit anderen stehe. Aber mit sich alleine unterwegs zu sein, ist eine tolle Erfahrung, gibt Gelegenheit für Reflektion, neue Träume, schärft die Aufmerksamkeit und die Begeisterungsfähigkeit. So empfinde ich absolutes Glück beim Verzehr der Erdbeeren, die eine gepflegte ältere Dame an ihrem Stand unmittelbar vor meinem Hotel zum Verkauf anbietet. Nie zuvor habe ich Aromatischere gegessen, was vielleicht weniger mit dem Reifegrad der Beeren, als mit meinem Gemütszustand zu tun hat.

Und da war sie, die Wehmut am 15. und letzten Tag meines Abenteuers Nordsee. Aufstehen, frühstücken, packen, losrollen, alles wie immer und doch nicht wie immer. Auf der Durchfahrt durch Rotterdam setzt der Regen ein. Kaum liegen die schützenden Stadtgebäude hinter mir, bekomme ich es mit einem kräftigen Gegenwind zu tun und die Angst einer Panne ist bei der zweitletzten Routenmarkierung, nur 16 km vor dem Ziel, grösser denn je. Mit einer Mischung aus Neugier, Ungeduld und Neid nicke ich den mir entgegenkommenden Zweiradfahrenden auf dem Rhein-Uferweg zu. Zwar habe ich mir in den vergangenen zwei Wochen täglich vorgestellt, wie es sein wird, wenn ich das Meer erreiche, trotzdem scheint meine unmittelbar bevorstehende Ankunft am Strand von Hoek van Holland surreal. Der asphaltierte Weg geht über in Betonplatten, auf welchen mir der Sand entgegenweht. Da ist es, das Meer. Das Vorderrad bereits tief im Sand, gleite ich unter dem tosenden Geräusch von Wellen und Wind aus dem Sattel, stütze mich mit meinen Unterarmen auf den Lenker und schaue hinaus in die scheinbar unendliche Weite. Wahrscheinlich habe ich da eine ganze Weile gestanden, bis mich eine Frau anspricht: Ist das das Ende ihrer Reise? Meine Augen füllen sich mit Tränen und ohne den Blick von den Wellen zu bewegen, nicke ich.
Astrid Schmid


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